U-Bahn Station Bergstraße. Wir befinden uns in Neukölln, dem größten Arbeiterviertel Berlins. Auf den Straßen sind viele Arbeiter und Kleinbürger zu sehen. Viele tragen den Sowjetstern an ihrer Brust. (…) Nicht von ungefähr wird Neukölln „Klein-Moskau“ genannt.
1928 befreite die 20jährige Olga Benario ihren Freund und Genossen Otto Braun in einer verwegenen Aktion aus dem Untersuchungsgefängnis Moabit. Danach flohen sie zusammen in die Sowjetunion. 1929 erschien in Moskau ein kleines Buch, „Berlinskaja Komsomolija“, die Übersetzung eines Manuskripts von Olga Benario, das von ihren Neuköllner Jahren erzählt. Das deutsche Manuskript ging verloren; Kristine Listau hat den russischen Text für den Verbrecher Verlag rückübersetzt. Ihr knochentrockener, teilweise durchaus ironischer Tonfall trägt sicher viel dazu bei, dass die Geschichte nicht nur ein zeitgeschichtliches Dokument ist, sondern eine erstaunlich amüsante Lektüre. Der Fleiß und die überbordende Penetranz, mit der die blutjungen Revolutionärinnen und Revolutionäre ihre Agitation betreiben, wirkt in der komprimierten Form geradezu ansteckend. Es gibt einige Vignetten, die hängenbleiben, etwa das moralische Dilemma, wenn die leckerste Eisdiele von Neukölln (Bergstraße, heute Karl-Marx-Staße.) ihre Angestellten ausbeutet; die Landpartien, bei denen man am Lagerfeuer beseelt die Liebe und den ersten Mai besingt; die erbarmungslose Stänkerei gegen die „Gewerkschaftsbonzen; oder wie das „rote Neukölln“ einen Autokorso der Nationalsozialisten empfängt:
Stolz gehen wir durch die Straßen. Versucht nur, Faschisten! Ihr bekommt eine ordentliche Antwort. (…) Sie kommen nicht weit! Bereits an der ersten Straße prasseln Blumentöpfe von Balkonen auf sie ein; Hausfrauen übergießen sie mit heißem Wasser. Mit Geschrei stürzen sich alle auf die Autos.
CW Juni 24