Hoch über Rixdorf, auf dem Turm des Rathauses Neukölln, steht die Glücksgöttin Fortuna. Sie ist nackt, trägt die Haare in einem Dutt und hält die üblichen zwei Attribute in Händen, ein Segel, das ihren Wankelmut symbolisiert, und ein Füllhorn, das reiche Gaben verheißt. Von unten betrachtet, wirkt sie eher klein und etwas windschief. In Wirklichkeit ist die kupferne Statue stolze 2,20 Meter groß; windschief ist sie in der Tat. Fortuna ist eine Wetterfahne, und wenn sich der Wind in ihrem Segel fängt, beginnt sie sich – zumindest theoretisch – zu bewegen. 1908, als sie auf dem Turm installiert wurde, stellte man sie zu diesem Zweck auf eine drehbare Platte. Sie wurde mindestens zweimal restauriert, nach dem zweiten Weltkrieg, in dem das Rathaus Neukölln schwer beschädigt wurde, und im Jahr 2000; es ist gut möglich, dass die Platte inzwischen klemmt. Seltsamerweise gehen die Meinungen auseinander, ob die Fortuna heutzutage immer in dieselbe Richtung schaut oder nicht.
Die Figur ist ein Werk des Bildhauers Josef Rauch, der auch den sonstigen plastischen Schmuck des Rathauses schuf. Wie alle Wahrzeichen von Berlin, bekam sie, kaum hatte man sie auf den Turm gehievt, sofort mehrere Spitznamen. Zwei davon blieben zumindest eine Weile hängen, „Rieke uff’m Rathausturm“ und „Jlücksfrau“.
Rieke ist das Mädchen, dessen Name sich auf „Musike“ reimt: In Rixdorf ist Musike/ da tanzen Franz und die Rieke / die letzte Polka vor … Rieke, Riekchen, Rikake / die ist mir nicht pi-pa-pe … Der unausrottbare Gassenhauer war um die Jahrhundertwende berlinweit berühmt geworden, als der Komiker Littke-Carlsen die Rixdorfer Polka auf die Bühne des Wintergartens zerrte – samt einer lebensgroßen Lumpenpuppe namens Rieke, mit der er das Tanzbein schwang.
Der Name „Glücksfrau“ geht zurück auf den wohl sehr bekannten und beliebten Stadtrat Glücksmann, der 1908 im Rathaus Neukölln sein Büro hatte. Ihm gab der Volksmund die Glücksgöttin zur Frau, weil es so gut zusammenpasste.
Der schlesische Jurist Dr. Alfred Glücksmann (1875-1960) stammte aus einer großen Familie jüdischer Intellektueller. Er hatte in Breslau sein Assessorat absolviert und mit Anfang dreißig seine Stelle als Rixdorfer Stadtrat angetreten. Seine Frau Frieda, mit der er fünf Kinder hatte, war die Halbschwester des Nobelpreisträgers Fritz Haber. 1912 kehrte die Familie Glücksmann Neukölln den Rücken und zog nach Guben in der Niederlausitz, wo Alfred Oberbürgermeister wurde. In seiner zwölfjährigen Amtszeit trug er maßgeblich zur Entwicklung des Städtchens bei. Heute trägt eine Straße in Guben seinen Namen.1924 zog die Familie zurück nach Berlin. Dr. Glücksmann arbeitete dort im Innenministerium der Weimarer Republik und leitete bis zur Machtergreifung durch die Nationalsozialisten eine Bank. Alfred Glücksmann, seine Frau und mindestens drei ihrer Kinder entkamen dem Holocaust durch die Flucht nach Palästina. Ihre Tochter Hilda sowie Alfred Glücksmanns Schwestern Ella und Margarete wurden in Auschwitz ermordet. Nach dem Krieg und dem Tod seiner Frau 1946 kehrte Dr. Glücksmann bald aus Israel nach Deutschland zurück. Er starb mit 85 Jahren in Wilhelmsfeld bei Heidelberg.
Heute hat die Glücksfrau auf dem Rathausturm keinen „offiziellen“ Spitznamen. Sie kann übrigens ihre Gaben nicht über Rixdorf ausschütten, weil die Weltkugel, auf der sie steht, ihr Füllhorn blockiert. Und sie bewegt sich doch!
CW, Mai 24